Domvikar Paul Weismantel im Gespräch mit den Mitgliedern des Diözesanvorstandes der Ackermann-Gemeinde Veronika Tomsova und Dr. Dr. Thomas Richter
AG: Wir wollten uns schon zu Beginn des neuen Jahres treffen, auf jeden Fall vor dem 24. Februar 2022, als der schreckliche Krieg begann. Hätten Sie sich vorstellen können, dass dieses Jahr durch ein solches Ereignis überschattet wird?
PW: Natürlich nicht. Ich dachte bis zu diesem Zeitpunkt, dass die Corona-Pandemie das schlimmste Ereignis in diesem Jahrzehnt sein wird. Und dann kam der furchtbare Krieg in der Ukraine mit allen Begleit- und Folgeerscheinungen und einem wirklich großen Elend für die Menschen, die unsagbares Leid und Trauer erfahren mussten. Und so sind viele Familien auf der Suche nach Schutz und Heimat in unser Land geflohen.
AG: Die Kirche in Russland ist an diesem Kriegsgeschehen beteiligt. Das Prinzip der „Heiligen Allianz“, das im Europa des 19. Jahrhunderts auf einer Verbindung von Thron und Altar basierte, ist im 21. Jahrhundert zurückgekehrt. Der Patriarch von Moskau lässt sich für die Kriegspropaganda instrumentalisieren und liefert dem russischen Präsidenten auf diese Weise eine Begründung für einen „gerechten Krieg.“ Was haben wir als katholische Kirche diesem Denken entgegenzusetzen?
PW: Wir müssen uns von diesem machtpolitischen Denken kritisch distanzieren. Was der Patriarch Kyrill I. zum Krieg gegen die Ukraine äußert, kann ich weder verstehen, noch nachvollziehen. Gleichzeitig gilt es aber auch, für die Kirche in Russland, zu der sich viele zugehörig fühlen, ganz intensiv zu beten. Wir haben als Christen kaum andere Möglichkeiten. Ich bin berührt, wie viele Menschen sich zu den Friedensgebeten treffen und den Rosenkranz beten. Ich selbst habe gleich nach dem Kriegsbeginn angefangen – zunächst wöchentlich, später monatlich – ein Friedensgebet zu schreiben. Man muss die Menschen ermutigen und stärken. Dieses Gebetsapostolat, das in der Geschichte nichts Neues ist, muss man beleben und pflegen. Dazu bedarf es freilich dreier Tugenden, nämlich der Geduld, der Beharrlichkeit und Ausdauer. Beim Beten denke ich nicht nur an den Frieden, sondern auch an die vielen Opfer sowie die damit verbundene Trauer in den Herzen der Menschen.
AG: Bei der Vertriebenenwallfahrt in Retzbach, die vor einigen Wochen stattgefunden hat, betete Weihbischof Dr. Reinhard Hauke am Ende des Gottesdienstes um den Frieden in der Ukraine. Auch in Würzburg gibt es viele Gebetsgemeinschaften, die diesem Beispiel folgen. Manchen Stimmen reicht aber das Gebet nicht, sie wollen Taten sehen. Und so ist dann auch in den Diskussionen vom „Tyrannenmord“ die Rede, um einen aggressiven Machthaber zu beseitigen. Wie weit gehen die Schmerzgrenzen für einen katholischen Geistlichen, wenn es um dieses Thema geht?
PW: Der Tyrannenmord ist ein Thema, das sich bis in die Antike zurückverfolgen lässt. Ich betrachte diesen nicht als eine realistische Möglichkeit, um den Krieg zu beenden. Und dann stellt sich die Frage, wer nach Putin an die Macht käme. Es ist aber durchaus verständlich, dass man sich angesichts der vielen Kriegstoten mit dem Thema „Tyrannenmord“ auseinandersetzt, vor allem im Hinblick auf die steigende Zahl an Opfern und dem Bewusstsein, dass dieser Krieg nicht so schnell zu Ende gehen wird.
AG: Über das Friedensgebet und die damit verbundenen Tugenden haben wir bereits gesprochen. Haben Sie das Gefühl, dass inzwischen mehr Menschen beten und die Gesellschaft kontemplativer geworden ist? Oder ist man nach dem anfänglichen Schock vom Februar und den ersten Kriegsbildern durch die Wiederkehr der Bilder schon wieder in seinem Empfinden abgestumpft?
PW: Ich sehe die Gefahr der Abstumpfung. Wir gewöhnen uns an die Nachrichten vom Kriegsgeschehen. Gleichzeitig müssen wir uns auch vor einer zunehmenden Gleichgültigkeit in Acht nehmen. Diese ist schlimmer als der Hass. Ich kenne die genauen Zahlen nicht, aber ich denke, dass es viele beharrliche Beter gibt, die eben empathisch sind und nicht abstumpfen wollen. Beten ist zwar manchmal anstrengend und bisweilen ist es auch ein persönlicher Kraftakt. Ich erinnere mich an die deutsche Wiedervereinigung in den Jahren zwischen 1989 und 1990. Damals war ich als junger Pfarrer in Wildflecken eingesetzt und aus dieser Zeit klingen mir noch die Worte des damaligen Bischofs (und späteren Kardinals) Karl Lehmann im Ohr: „Die Wiedervereinigung ist auch eine Frucht des Gebets.“ Die Menschen haben beim Beten von dem „Engel des Herrn“ immer die folgenden Bitten angefügt, „dass du, o Gott, dem Volk die Einheit, der Kirche die Freiheit und der Welt den Frieden schenken solltest.“ Aus dieser großen Kraftquelle sollte man auch beim Friedensgebet für die Ukraine schöpfen.
AG: Irgendwann wird auch dieser Krieg vorbei sein. Und dann wird auf der gemeinsamen Agenda zwischen Russland und der Ukraine das Thema „Versöhnung“ stehen. Somit sind wir wieder beim Grundauftrag der Ackermann-Gemeinde angekommen, welche sich um die verwundeten Seelen der vielen Heimatvertriebenen nach dem 2. Weltkrieg gekümmert hat. Wie kann so eine Versöhnungsarbeit heute aussehen?
PW: Die Versöhnungsarbeit ist eine Form der Trauerarbeit für die Seele und letztendlich handelt es sich dabei um Schwerstarbeit, die aber für den Prozess unumgänglich ist. Ohne Versöhnung ist ein gutes Leben, das auf die Zukunft ausgerichtet ist, nicht möglich. In der Geschichte ist das immer wieder gelungen: ich denke da nur an die ehemaligen Erbfeinde Deutschland und Frankreich, die nach dem 2. Weltkrieg wieder zusammengefunden haben. Ich hoffe sehr, dass das auch eines Tages zwischen den kriegführenden Ländern gelingen wird. Es braucht aber nicht nur den äußeren Rahmen, sondern auch den inneren Aufbau. Versöhnung muss praktiziert und immer wieder geübt werden. Dazu gehören Bildungsarbeit und zahlreiche Aktionen und Initiativen auf vielen Ebenen. Ich hoffe, dass es in unserer Diözese viele Menschen gibt, die ihren Teil dazu beitragen.
AG: Nach dem 2. Weltkrieg war es die Ackermann-Gemeinde, welche diese Versöhnungsarbeit über mehrere Generationen geleistet hat. Diese Arbeit ist weitgehend geleistet. Jetzt muss sich die Ackermann-Gemeinde neu definieren. Wie sehen Sie deren zukünftige Aufgaben in unserer Diözese?
PW: Die Themen „Versöhnung“ und „Friedensarbeit“ sind zeitlos aktuell, gerade im Hinblick auf die Staaten in Ost- und Mitteleuropa. Die Überzeugung, Christ zu sein und den Frieden auf der Welt aus dem Geist des Evangeliums zu wollen, sind auch heute noch Triebfedern in einem vereinten Europa, das zunehmend von Dissonanzen und Egoismen gekennzeichnet ist. Jede Initiative, auch wenn sie quantitativ zunächst unbedeutend erscheint, ist für die Versöhnung von großer Qualität. Diese Potentiale gilt es zu nutzen.
AG: Die großen Zeiten der Volkskirche in Deutschland sind vorbei. Die Mitte dünnt aus, die Ränder werden stärker. Wir haben in der katholischen Kirche sehr konservative Gruppen, die sehr aktiv sind und vor allem im Bereich der Liturgie gerne an die Zeit vor dem 2. Vatikanischen Konzil anknüpfen. Auf der anderen Seite fordern Vertreter des synodalen Weges einen massiven Eingriff in die DNA der katholischen Kirche und würden ihre Ziele gerne in einem 3. Vatikanischen Konzil verwirklicht sehen. Wie können wir Versöhnung zwischen den beiden Gruppen innerhalb unserer Kirche stiften?
PW: Diese Konflikte machen mir persönlich sehr zu schaffen. Eine Zukunft als Gesamtkirche haben wir nur, wenn es uns gelingt, in den ganzen Meinungsverschiedenheiten die Wahrheit zu erkennen und uns daran auszurichten. Ich betrachte es mit großer Sorge, wenn bei der gemeinsamen Auseinandersetzung Vergleiche mit der Zeit des Faschismus bemüht werden. Selbstverständlich brauchen wir immer eine Unterscheidung der Geister. In der Versöhnungs- und Friedensarbeit geht es auch darum, die Wunden und Verwundungen, die Menschen erfahren haben, zu heilen. Die Kirche hat nicht nur einen Auftrag zur Verkündigung, sondern auch zur Heilung von Wunden, die im persönlichen Bereich oder aber auch durch geschichtliche Ereignisse entstanden sein können. Natürlich muss man Dinge immer wieder in Frage stellen und hinterfragen. Eine Herabsetzung oder eine persönliche Diffamierung des Gegenübers führt jedoch zu nichts. So kann keine Versöhnungsarbeit funktionieren.
AG: Und genau dazu braucht man spirituelle Menschen, die aus dem Geist des Gebets leben und handeln. Unternehmen wir zum Abschluss eine kleine Zeitreise. Wie steht unsere Kirche in einer Generation, sprich in 25 Jahren, da?
PW: Ich hoffe und bete dafür, dass die Kirche nicht mehr so mächtig nach Außen auftritt. Das tut sie im Grunde genommen eigentlich in den letzten Jahren schon nicht mehr, denn es fehlen ja die Menschen, die sich abgewendet haben. Die Kirche ist zum einen Anwältin für Menschen, aber auch Anwältin für die Ehre Gottes. Beide Bereiche gehören zusammen und sind nicht voneinander zu trennen. Menschen, die sich als Kirche verstehen, leben und handeln aus der Tradition des Evangeliums und führen die Menschen zu Christus. Wir werden jedoch in der nächsten Generation nicht mehr so viel Einflussmöglichkeiten haben. Wir werden kleiner und schwächer, kommen aber somit den Bildern des Evangeliums wieder näher. Somit werden wir auch wieder glaubwürdiger. Denn letztendlich haben wir als Kirche vor allem eine Krise der Glaubwürdigkeit, die wir zur Zeit durchleben. In Treue zum Evangelium und zum dreieinigen Gott hoffe ich und bete ich, dass wir somit den Weg in eine gute Zukunft gemeinsam gehen können.
AG: Lieber Herr Domvikar Weismantel, wir danken Ihnen für das offene Gespräch und freuen uns, wenn Sie der Ackermann-Gemeinde spirituell und im Gebet weiter verbunden bleiben.
Foto: Markus Hauck